Chapeau, Piano Man!

Was Du an Deinen schlechten Tagen tust ist wichtiger, als das, was Du an Deinen guten Tagen tust.

(Kevin Kelly)

 

Es ist die Nacht vom 14. zum 15. Juni 1994 an der Hotelbar des Stuttgarter Graf Zeppelin. Die Bar ist gut gefüllt mit Anzugträgern verschiedenster Herkunft, welche sich getränkepegelabhängig gegenseitig in Sachen Business, Leben, Sex oder was auch immer ihre Egos bauchpinseln. 

Irgendwann schwankt ein Mann in Begleitung einer Flasche Whiskey in den Raum. Die Krawatten-Boys komplett ignorierend, peilt er mit glasigem Blick den sich im Eck der Hotelbar befindlichen Flügel an, nimmt mitsamt seiner Flasche Platz und beginnt sich die Seele aus dem Leib zu spielen.

„Wow, der Typ ist voll wie ein Haus, aber Klavier spielen kann er“, denken sich die Krawatten an der Theke, ignorieren aber ansonsten diesen Typen ebenso, wie er den Rest der Bar und der ganzen Welt in jenem Moment.

 

Ein paar Stunden zuvor schwebe ich euphorisiert aus der Stuttgarter Schleyerhalle.

Ich habe soeben ein Billy-Joel-Konzert erlebt, welches mich noch Tage später sprachlos macht und ich auch heute noch ungefragt zu Schwärmen beginne, wenn ich den Namen Billy Joel höre.

 

Erst Jahre später erfahre ich in einer SWR1-Story die gesamte Geschichte dieses Abends.

Billy erhielt eine Stunde vor genau diesem Konzert einen Anruf von seiner Frau Christie Brinkley, in welchem sie ihn über Kontinente hinweg wissen ließ, dass sie gerade mitsamt der 9-jährigen Tochter auszieht und nach seiner Rückkehr von der Europa-Tour mit ihm die Scheidung aushandeln wird.

In diesem Moment zog es ihm jeglichen Boden unter den Füßen weg, sein Herz fühlte sich aus dem Leib gerissen, ein großes schwarzes Loch tat sich auf.

 

Eine Stunde später brennt exakt dieser Kerl in der ausverkauften Halle ein musikalisches Feuerwerk ab, verschenkt sich empathisch und herzlich an sein Publikum, welches ihn nach „Piano Man“ euphorisch von der Bühne verabschiedet.

Sein anschließender Weg führt Billy sehr zügig ins Hotel und an die besagte Bar.

 

Seit ich um den Gesamtverlauf jenes Abends weiß, berührt mich diese Geschichte immer wieder aufs Neue.

Zwar höre ich sofort die Stammtisch-Floskeln wie

„Der verdient so viel Kohle, da darf man auch erwarten, dass abgeliefert wird!“

„Die Eintrittskarte hat ja schließlich auch ne Stange Geld gekostet!“

 

Doch das, was an diesem Abend in der Schleyerhalle abgerissen wurde, war vieles, nur keine professionelle durchgestylte Routine.

Billy Joel ließ schlicht und ergreifend das Herz auf dieser Bühne in Stuttgart, welches sich seit wenigen Stunden wie herausgerissen anfühlte.

 

Diese Geschichte ist für mich seither ein unglaublicher Reminder, wenn ich mich ertappe, mir vor einer „Extrameile“ irgendwelche alibihaltige Geschichten zu konstruieren, warum es gerade so schwierig, so unpassend, so überbelastend ist, einen gerade herausfordernd anmutenden Schritt zu gehen, von dem ich umgekehrt weiß, dass er für mich wichtig und gut ist.

Wenn dazu noch mein um Energieersparnis bemühter Verstand mir suggeriert, dass etwas gerade nicht machbar ist, erst dann, getan werden sollte, wenn das Wetter, das Mindset, die Rahmenbedingungen und das Horoskop passen.

 

Ich zeige da bewusst nicht mit dem Finger auf Dich oder Andere, denn dann würden immer noch drei Finger auf mich zeigen und bestätigen, dass da schon weitaus dürftigere Alibis genügten, um die Platte zu putzen, etwas abzubrechen oder ganz sein zu lassen.

 

Aber vielleicht wird der Song „Piano Man“ auch bei Dir künftig mehr als nur gute Gefühle schaffen, wenn Du in Deine Playlist integrierst und vor der nächsten sich nicht so easy anfühlenden Herausforderung stehst! 😊